Versöhnung im Schatten der Mauer
Architektur und Spiritualität zwischen Geschichte und Gedächtnis: Der Erinnerungsort Bernauer Straße als Lernort
Die Kapelle der Versöhnung an der Bernauer Straße, auf der Grenze zwischen den Berliner Stadtteilen Wedding und Mitte gelegen, ist ein architektonisches Kleinod. Interessierte aus aller Welt besuchen sie allein wegen ihrer einzigartigen Gestaltung. Der puristische Stampflehmbau ist das Resultat eines partizipativen Prozesses, der maßgeblich inspiriert wurde durch die Mitglieder der kleinen Evangelischen Versöhnungskirchengemeinde. Vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten wurde die Kapelle auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen Ost- und West-Berlin errichtet: aus Holz und Lehm, zu zwei Dritteln aus den Bruchstücken der historischen Versöhnungskirche und auf den Fundamenten ihres großen neugotischen Vorgängerbaus, der im Januar 1985, nach mehrjährigen Verhandlungen zwischen Vertretern von Kirche und staatlichen Institutionen in West- und Ost-Berlin, gesprengt worden war.
und auf den Fundamenten ihres großen neugotischen Vorgängerbaus, der im Januar 1985, nach mehrjährigen Verhandlungen zwischen Vertretern von Kirche und staatlichen Institutionen in West- und Ost-Berlin, gesprengt worden war.
Direkt auf der Grenze – zwischen dem sowjetischen und französischen Sektor – gelegen, war sie nach dem Mauerbau am 13. August 1961 unzugänglich geworden. Fotos und Filmaufnahmen von spektakulären Fluchten aus den Hauseingängen und Fenstern an der Bernauer Straße im Sommer 1961 und von dem Volkspolizisten Konrad Schumann, der kaum einhundert Meter entfernt, den ausgerollten Stacheldraht übersprang, sind Teil des kollektiven Bildgedächtnisses. Die zahlreichen, den Kirchenbau flankierenden Häuser an der Bernauer Straße wurden im Laufe der Jahre geschliffen und lediglich ihre Fassaden blieben noch bis in die 1980er Jahre hinein als Teile der Grenzanlagen erhalten.
Der Turm der Versöhnungskirche überragte weithin sichtbar die Mauer. DDR-Grenztruppen nutzten ihn als Wachturm, doch verstellte er auch den Postenweg inmitten von sogenannter „Vorder- und Hinterlandmauer“. Er war zu einem Hindernis der menschenverachtenden Grenzsicherung der SED-Diktatur geworden. Das Bild der unerreichbaren Kirche gereichte zu einem Symbol der Teilung Berlins und Deutschlands. Die Nachrichtenbilder im Januar 1985, die den in sich zusammenfallenden Kirchenbau und den sich neigenden Turm zeigen, verkörperten den Allmachtsanspruch des totalitären Regimes. Mit der Sprengung des Gotteshauses waren Zusammenhalt, Zugehörigkeit, das Gefühl von Sinn und die Verankerung von Lebensgrund weit über kirchliche Zusammenhänge hinaus nachhaltig beschädigt worden. In diesem Spannungsfeld, das geprägt ist von Teilung und Unerreichbarkeit, agieren die Akteure der Bildungsarbeit am Erinnerungsort Bernauer Straße.
Diese Hintergründe sind den Inhalten und Methoden immanent, wenn sie sich darauf ausrichten, die Kapelle der Versöhnung sowohl als Teil der Erinnerungskultur zu erleben, wie auch als Ort gelebter Versöhnung im Schatten der Mauer zu berichten – Beispiele gelebter Versöhnung begreifbar zu machen. Thematische Führungen, Veranstaltungen, Workshops und Lerntage werden sowohl von individuellen Gruppen – meist mit kirchlichem Hintergrund – direkt bei der Kirchengemeinde angefragt oder aber durch die benachbarte Stiftung Berliner Mauer vermittelt. Sowohl eine Reihe von festen Kooperationen mit Partnern aus kirchlichen und interreligiösen Bereichen, als auch mit Gruppen aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen flankieren die Bildungsarbeit. Koordiniert und ausgeführt wird sie von Pfarrer Thomas Jeutner und der Beauftragten für Kultur und Öffentlichkeitsarbeit, Esther Schabow, die beide mit einem Team von Ehrenamtlichen zusammenarbeiten, um der Anzahl von Anfragen nach Führungen und anderen Formaten entsprechen zu können.
Erinnerung und Gedenken
Erinnerung und Gedenken: Versöhnung im Schatten der Mauer
Der kleine Kapellenbau, der in Zeiten ohne Pandemie knapp 100 Menschen fasst, ist das spirituelle Zentrum der Gedenkstätte Berliner Mauer. Im Altar der Kapelle wird das Buch mit den Biographien der Toten an der Berliner Mauer aufbewahrt. Damit ist sie nicht nur räumlich der Ausgangspunkt für kirchliche Bildungsarbeit am Erinnerungsort Bernauer Straße. Nach Fertigstellung der Kapelle im Jahre 2000 zog die Kirchengemeinde zurück an den historischen Gottesdienstort. In der Folgezeit wurde die benachbarte Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße auf einer Länge von 1,4 Kilometer auf dem ehemaligen Grenzstreifen erweitert: Neben dem Denkmal Berliner Mauer unweit der Ackerstraße wurde auf dem Areal eine Außenausstellung errichtet. Das im ehemaligen Gemeindehaus befindliche Dokumentationszentrum Berliner Mauer, das Fenster des Gedenkens sowie das Besucherzentrum und eine Ausstellung im benachbarten S-Bahnhof Nordbahnhof bieten Möglichkeit für individuelle Besuche.
Sie sind Stationen der kirchlichen Bildungseinheiten an der Bernauer Straße, können aber durch Schwerpunktsetzung und Ergänzung diakonischer und kirchlicher Orte und deren Relikte in unmittelbarer Nachbarschaft (z.B. Lazarus-Diakonie, Friedhöfe an der Ackerstraße) ergänzt werden. Sowohl anlässlich der offiziellen Gedenktage und Jubiläen (13. August und 9. November) als auch im Alltag – unter anderem wenn Lektoren in einer täglichen Andacht in der Kapelle der Versöhnung an die Biographie eines Toten erinnern und zahlreiche Besuchergruppen von Versöhnung im Schatten der Mauer und dem Wirken der Weddinger Kirchengemeinde hören wollen, schaffen diese spirituellen Rituale, die über den Rahmen eines Führungsprogrammes oder eines Workshopformats hinausgehen, Verbundenheit: mit der Vergangenheit, ihren Menschen und Schicksalen und mit den Möglichkeiten für die Gegenwart.
Lernort – Bernauer Straße
Die Rolle des Unerwarteten und das Potential von spontanen Begegnungen in der Bildungsarbeit am Lernort Bernauer Straße
Ein Donnerstag im Herbst 2020: die Inzidenzwerte steigen wieder. Noch sind Schulen, Kindergärten, Gastronomie und der Einzelhandel geöffnet, doch die Verantwortlichen in der Politik bereiten die Gesellschaft auf notwendige Maßnahmen zur Eindämmung weiterer Infektionen mit dem Corona-Virus vor. Die nationalen und internationalen Besucherströme bleiben seit Monaten aus: Gruppenbesuche, Führungen für die unterschiedlichen Zielgruppen und Workshops, die sich dem Erinnerungsort aus kirchlicher Perspektive widmen, wurden abgesagt oder verschoben. Vor der Pandemie waren es an den meisten Tagen zwischen zwei- und dreitausend Menschen, die während der Öffnungszeit zwischen 10 und 17 Uhr die Kapelle der Versöhnung besuchten.
Ungeachtet der Besucherzahlen und des tagespolitischen Geschehens sind die Türen des Stampflehmbaus wochentäglich, dienstags bis freitags von 11 Uhr an weit geöffnet, denn zur Mittagsstunde findet eine Andacht im Gedenken der Toten an der Berliner Mauer statt. An jenem Donnerstag im Herbst nutzte eine Willkommensklasse das gute Wetter um den verordneten digitalen Lernraum für einen Unterrichtstag unter freiem Himmel an der Gedenkstätte Berliner Mauer. Neben wenigen spazierenden Nachbarinnen und Nachbarn war es die einzige Gruppe, die als solche auf dem Gedenkstättenareal auszumachen war und sich um die Mittagszeit der Kapelle näherte. Eine Lehrerin mit einem dicken Ordner voller Anschauungsmaterial begleitete zwölf Menschen: junge Männer und Frauen, von denen einige ein Kopftuch trugen und die miteinander arabisch sprachen.
Der ehrenamtliche Lektor bereitet das Läuten der Glocken zur Mittagsstunde vor: er trägt Leiter, Seile und Hörschutz zu dem der Kapelle vorgelagerten Glockenstuhl, in dem die historischen Glocken der alten Versöhnungskirche wieder hängen. Dieses Prozedere erweckt das Interesse der Willkommensklasse.
Ihre Lehrerin fragt, ob es möglich sei, dass ihre Schülerinnen und Schüler auch die Glocken läuten. Gemeinsames Läuten ist ein häufig praktizierter, haptischer Einstieg in die meisten Begegnungen in und an der Kapelle – so auch für die Gruppe der geflüchteten Jugendlichen.
Der anschließende Gang der Gruppe in die Kapelle und die gemeinsame Andacht waren zu keiner Zeit geplant. Erstaunen oder Irritation über das Ausmaß eines interreligiösen und interkulturellen Miteinanders in diesem spontanen Moment blieben aus, denn alles mutete nach dem haptischen Einstiegsimpuls am Glockenturm im wahrsten Sinne selbst-verständlich an. Schnell einigte man sich auch darauf, für die – ohnehin kurze – Liturgie eine interreligiöse Form zu finden und die Biographie des Toten an der Mauer simultan zu übersetzen. Der Lektor verlas die Biographie eines der 140 Todesopfer. Wie immer war diese vorab und im Zusammenhang mit einem Geburts- oder Todestag für jenes Datum ausgewählt worden. In Gebet und Fürbitte schließt die 15-minütige Andacht auch jene Menschen mit ein, die ihr Leben, ihre Familienangehörigen und Freunde in den neueren und neuesten Fluchtbewegungen verloren haben. Nachdem der Lektor eine Kerze zum Gedenken entzündet hatte, bedurfte es nur einer kurzen Verständigung, dass nun nacheinander und in andächtiger Stille alle Schülerinnen und Schüler ein Licht für ihre Familien und Freunde, die sie auf der Flucht nach Deutschland verloren hatten oder zurücklassen mussten, entzündeten. Auch das Nachgespräch im Gemeinschaftsgarten NiemandsLand, direkt hinter der Kapelle gelegen, war zu keiner Zeit geplant gewesen, es machte aber deutlich, dass es durch wahre Spontaneität und – Gott sei Dank! – echte Begegnung zwischen den Menschen unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Sprachen möglich geworden war.
Bildungsarbeit am Erinnerungsort Bernauer Straße wurzelt in Gedenken und Erinnerung. In direktem Erleben und durch persönliche Begegnungen kann Sensibilisierung erwachsen für historische und gesellschaftliche Zusammenhänge von Mauern und Ausgrenzung in Vergangenheit und Gegenwart. Dafür bedarf es geöffneter Türen und Offenheit – in jedwedem Sinne und mit Schritten auf die Gäste und Interessierten zu. Sie ermöglicht fruchtbare Bildungsarbeit, die Grenzen überwindet und nachhaltig wirkt.